Die Blutmauer by Raimon Weber

Die Blutmauer by Raimon Weber

Autor:Raimon Weber
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2016-10-05T22:00:00+00:00


Kapitel 5

25. November 1989

»Wohin fahren wir?«, fragte Lothar Jordan.

Keil legte die Hände gegen das kühle Glas des Wohnzimmerfensters, presste die Stirn dagegen und starrte auf die Straße. Hin und wieder bog ein Wagen mit eingeschalteten Scheinwerfern um die Ecke. Keiner von ­ihnen hielt an oder verringerte verdächtigerweise die Geschwindigkeit. Aber vielleicht wurde seine Wohnung längst von einem der gegenüberliegenden Häuser aus beobachtet.

Keil wünschte sich, sein Onkel hätte ihm eine Te­lefonnummer gegeben. Er hätte ihn dann um Begleitschutz gebeten. Vielleicht kannte der Generalmajor auch einen noch sichereren Ort. Allerdings glaubte Keil nicht, dass der verängstigte Jordan es gutheißen würde, wenn ein hoher Offizier eingeweiht würde.

Keil griff mit der rechten Hand unter seinen Mantel und umfasste den Griff der Dienstwaffe in ihrem Schulterholster.

»Wohin fahren wir denn nun?«, wiederholte Jordan.

»Nach Ketzin«, antwortete Keil. »Bekannte von mir besitzen dort eine Datsche.«

Sie waren bereit zur Abreise. Keil deutete auf den Koffer. Darin hatte er Kleidung für sich und Jordan zusammengepackt. Seine Sachen würden ein wenig zu groß für den Mann sein, aber damit musste der sich abfinden.

»Sie tragen den Koffer und bleiben immer dicht hinter mir«, ordnete Keil an.

Jordan nickte eifrig.

Keil trat in den Hausflur, sah sich mit der Hand an der Waffe um und gab Jordan ein Zeichen, ihm zu folgen.

Sein Wagen stand etwa zwanzig Meter von der Haustür entfernt. Um halb sieben in der Frühe waren noch keine Fußgänger unterwegs. Keil musterte die anderen parkenden Fahrzeuge. Die meisten von ihnen gehörten den Nachbarn.

»Kommen Sie«, sagte Keil leise und behielt die Eingänge und Fenster der anderen Häuser im Auge.

Jordan reckte den Kopf langsam nach beiden Seiten und kam dann aus dem Hauseingang hervor. Den Koffer hielt er wie ein Schutzschild auf Brusthöhe.

»Sie steigen hinten ein und legen sich auf die Rückbank, bis wir aus der Stadt raus sind.«

Der Ort Ketzin lag an der Havel, etwa fünfundzwanzig Kilometer von Potsdam entfernt. Im Sommer war er bei Ausflüglern beliebt, um diese Jahreszeit würde es dort sehr ruhig zugehen. Die Datsche gehörte Thilo Brockmanns Eltern. In jungen Jahren hatte Keil mit seinem Freund dort so manche Sause veranstaltet. Thilo Brockmanns Bemühungen, ihm sein introvertiertes Verhalten auszutreiben, hatten allerdings nur mäßigen Erfolg erzielt. Keil hatte dabei feststellen müssen, dass er keinen Alkohol vertrug und bei Mädchen nur schwer landen konnte.

Schon damals war das Wochenendhaus mit allerlei Luxus ausgestattet gewesen, über den die meisten Leute heute noch längst nicht in ihren Wohnungen verfügten. Dazu gehörten ein Telefonanschluss und eine Stereo­anlage, wie sie Keil noch nie zuvor gehört hatte. Selbst die Lieder von Bands wie Led Zeppelin oder den Rolling Stones, die er mit seinem Kassettenrekorder aus dem Westradio aufgenommen hatte, klangen großartig. Brockmanns Vater galt noch immer als einer der fähigsten Kardiologen der Republik, aber seine Frau war durch einen Schlaganfall zu einem Pflegefall geworden, so dass die Datsche in Ketzin seit geraumer Zeit nicht mehr genutzt wurde.

»Werden wir auch nicht verfolgt?«, fragte Jordan immer wieder von der Rückbank aus und wagte es nicht, den Kopf zu heben.

Als sie die Ausläufer von Potsdam hinter sich gelassen hatten, erlaubte ihm Keil, sich hinzusetzen.



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